Experiment OPTOVERT


Die meisten Menschen haben schon einmal von einem wartenden Zug aus beobachtet, wie der Zug auf dem Nebengleis anfährt, und dabei das Gefühl gehabt, sich selbst zu bewegen. In Wirklichkeit steht in diesem Fall der Beobachter als Subjekt still, und das von ihm ruhend geglaubte Objekt bewegt sich. Optische Täuschung, sagt der Laie – eine lineare Vektion, spezifiziert der Fachmann.

Vektion wird als die Empfindung von (scheinbarer) Eigenbewegung definiert, die durch die Verarbeitung visueller Information über die Bewegung der Umgebung entsteht. Der Grund für diese Sinnestäuschung liegt im Zusammenspiel der von den Augen und vom Gleichgewichtsorgan gelieferten Information. Bedingt durch die Anatomie der Bogengänge versiegt der Informationsstrom aus dem Gleichgewichtsorgan bei gleichförmiger Bewegung binnen kurzem. Das heißt, der Gleichgewichtssinn gibt keinen Hinweis darauf, ob sich der Beobachter in Ruhe oder gleichförmiger Bewegung befindet. Er muß allein mit dem von den Augen kommenden Informationsstrom auskommen.

Grundsätzlich gibt es zwei Formen der Raumorientierung: die statische, bei der sowohl das Subjekt als auch die Umgebung (das Objekt) unbewegt sind, und die dynamische, bei der sich das Subjekt und/oder das Objekt bewegen.

Forschungsziel

Wie im Experiment AUDIMIR geht es auch bei OPTOVERT um die menschliche Orientierung im Raum. Unter speziellen Simulationsbedingungen soll bewiesen werden, daß das visuelle System im Weltraum wesentliche Orientierungsaufgaben übernimmt. Weitere Untersuchungen sollen Aufschluß über die Änderung der vertikale Orientierung geben. Der vertikalen Vektion ist bislang wenig Beachtung geschenkt worden.

Funktionsweise, Meßprinzip

Während der Durchführung des Experiments trug der österreichische Wissenschaftskosmonaut einen sogenannten optokinetischen Simulator, einen Zylinder, den er mit elastischen Bändern wie eine Gesichtsmaske befestigte. Im Inneren des Zylinders befanden sich ein halbkugelförmiger Projektionsschirm, auf den ein bewegtes Lichtpunktmuster projiziert wurde.

Als „Subjekt“ führte Franz Viehböck das Experiment sowohl frei schwebend als auch fest an einer Unterlage angeschnallt durch. Damit wurde die Rolle der Körperfühlorgane für die Raumorientierung geprüft.

Franz Viehböck beim Experiment OPTOVERT auf der Raumstation MIR. Foto: BMBWK, Wien

Die Reaktion des Auges auf Objektbewegung wird als Optokinetik bezeichnet. Neben objektiven Messungen der Augenbewegungen wurden auch das subjektive Orientierungsempfinden des Kosmonauten erfaßt, der dazu seine Eindrücke auf Band sprach. Zusätzlich teilte der Kosmonaut mit Hilfe eines beweglichen Lichtzeigers mit, wo seiner Ansicht nach oben und unten war. Die Steuereinheit dazu war am Gürtel des Kosmonauten befestigt. Ein Programmwahlschalter ermöglicht das Anwählen von Test- und Kalibrationsprogrammen sowie von vier automatisch ablaufenden Programmen für unterschiedliche Experimentteile. Dabei besorgt eine elektronische Speichereinheit die richtige zeitliche Abfolge der Richtungen bzw. Geschwindigkeiten der Musterbewegung und die Ansteuerung der Leuchtdioden des beweglichen Orientierungszeigers.

Mitverwendete Apparaturen der österreichischen Nutzlast

DATAMIR, AUDIMIR

Ergebnisse

Die Untersuchung des optokinetischen Nystagmus konnte die schon vorliegenden Ergebnisse eines französischen Weltraumexperimentes nicht unterstützen. Bei Franz Viehböck fand sich weder eine wesentliche Änderung im Verhältnis von Stimulusgeschwindigkeit und Geschwindigkeit der verfolgenden Augenbewegungen noch die erwartete Änderung dieser Verhältniszahl im Vergleich von Aufwärts- und Abwärtsstimulation.

Die Fähigkeit, die exakte Vertikale im Gesichtsfeld einzustellen, blieb mit Fehlern innerhalb von 2 Grad größtenteils erhalten. Eine diskrete Fehlerausrichtung nach einer Seite kann entweder einen systemischen Fehler widerspiegeln oder Zeichen eines (vestibulären) Input-Einflusses sein. Das zentrale Integrationszentrum der statischen Orientierung zeigt jedenfalls keine Auffälligkeit.

Im Rahmen von OPTOVERT wurden erstmals Angaben über die vertikale Vektion in der Schwerelosigkeit gewonnen. Die Daten der Vektionsversuche zeigen, daß es in den Flugversuchen genau wie auf der Erde keinen Nacheffekt gab. Unmittelbar mit dem Ende der Stimulation und dem Beginn der Dunkelphase im Stimulator endete das Vektionsgefühl. Subjektiv fand sich ein ähnliches Hebe- und Sinkgefühl wie auf der Erde ohne subjektives Überwiegen der Aufwärts- oder Abwärtsbewegung. Die Untersuchung der Latenzen bis zum Auftreten des Vektionsgefühls erbrachte eine deutliche Verkürzung für die Abwärtsvektion beim Experimentteil 2 (Vektion durch Stimulation mit konstanter Geschwindigkeit). Bei Stimulation mit ständig zu- bzw. abnehmender Geschwindigkeit des Stimulus (Experimentteil 4, Sinusstimulation) trat erstmalig das Phänomen der „inversen Vektion“ auf. Dabei zeigte sich ein Bewegungsgefühl in der Musterrichtung, statt wie sonst gegen die Richtung des bewegten Musters. Gleichzeitig war im Rahmen jenes Testteils, bei dem der Stimulus mit den Augen bzw. dem Hebel verfolgt werden mußte, keine Änderung feststellbar. Dadurch konnte bewiesen werden, daß die Änderungen im Vektionsgefühl ein echtes Orientierungsphänomen darstellen und nicht auf eine Störung der Auge-Hand-Koordination zurückzuführen sind.

Die Ergebnisse der OPTOVERT-Untersuchungen zeigen, daß neben einer Rekalibration der eingehenden Sinnesinformationen auf Hirnstammebene auch eine Reinterpretation der Bedeutung dieser Information auf höherer Ebene nötig wird. Bei atypischen und unklaren Informationen wie beispielsweise einem visuellen Stimulus mit ständig zu- bzw. abnehmender Geschwindigkeit und dem Fehlen einer entsprechenden vestibuloren Information kann es zu einer Lockerung der sonst engen Beziehung zwischen Reiz und reaktiver Illusion kommen. Ein Beispiel dafür ist die „inverse Vektion“, die als neues Phänomen erstmals bei OPTOVERT gefunden werden konnte.

Das geringe Überwiegen der Abwärtsbewegung der Vektionsillusion fand sich subjektiv nicht, allerdings zeigte sich eine schwache intraindividuelle Signifikanz des schnelleren Auftretens der abwärtsgerichteten Vektionsillusion. Die Frage, ob dieses Ergebnis von individueller oder genereller Bedeutung ist, kann nur durch weitere Untersuchungen geklärt werden, auch wenn es gut zu einer hypothetischen Abwärtstendenz der Orientierung durch den Wegfall der Schwerkraft paßt.

Praktische Anwendung
Anwendungsgebiete
  • Diagnostik und Therapie
  • Auswahl und Kontrolle des Zustandes der Sensorsysteme bei Personen verschiedener Berufsgruppen
  • Neurophysiologie und theoretische Neurologie
Anwendungsziele
  • Topische Diagnostik und Behandlungskontrolle neurologischer und otoneurologischer Erkrankungen
  • Verbesserung der Qualität der neurovestibulären Auswahl in der Flug-, Weltraum-, Berufs- und Sportmedizin
  • Erforschung von Störungen der integralen Funktionen des Gehirns
An der Nutzung der Experimentergebnisse direkt interessierte Institutionen
  • Universitätsklinik für Neurologie, Wien
  • Institut für biomedizinische Probleme, Moskau
Technische Daten

Die Apparatur OPTOVERT bestand aus folgenden Einheiten

Die Apparatur OPTOVERT. Foto: BMBWK, Wien
Elektrischer Prinzipschaltplan des Projekts OPTOVERT. Grafik: BMBWK, Wien
Versorgungsblock (VB OPT)

Diese Einheit wurde in die Zentraleinheit des Systems DATAMIR eingebaut geliefert.

Masse: 0,7 kg
Abmessungen: 191 mm x 129 mm x 71 mm
Leistungsaufnahme: 20 W
Aluminiumcontainer mit Zusatz- und Reservebauteilen
  • Optokinetischer Stimulator
  • Optokinetische Projektionseinheit
  • Projektionslampeneinheiten (3 Stück)
  • Steuereinheit zur Steuerung der optischen Stimuli
  • Diktiergerät
  • Energieversorgungssatz für das Diktiergerät (2 Sätze zu je 2 Batterien)
  • Kassettenbox mit 4 Audiokassetten
  • Kopffixator
  • Reservesicherungen
  • Reserveantriebsriemen für die Projektionseinheit
Masse: 7,6 kg
Abmessungen: 460 mm (Durchmesser) x 455 mm (Höhe)
Experimentatoren

o. Univ.-Prof. Dr. Luder Deecke (Institutsvorstand)
Dr. Christian Müller (Projektverantwortlicher)
Dr. G. Wiest
Dr. Claudia Lind
alle: Neurologische Universitätsklinik Wien

Subauftragnehmer:
Dipl.-Ing. Rudolf Theuer
Fa. TBN, Technisches Büro Novak Ges.m.b.H., Wien